,Liebe Maulwürfinnen und Maulwürfe, Liebe Talpa europaea, Liebe Mullen, ich darf mich zunächst kurz vorstellen: ich bin Elfriede Grabowski, ja, richtig gehört, vielleicht hat mein Nachname mitgeholfen, also war jedenfalls bestimmt nicht hinderlich bei meiner Bewerbung zur Ansiedlungsberaterin für Insektenfresser im neugeschaffenen Referat für Bodenkultur und Humus-Management, einem 2016 aus der Taufe gehobenen gemeinsamen Projekt der Behörden Finanzen, Kultur und Event und Umwelt und Energie.
Ich will an dieser nicht Stelle nicht versäumen, uns bei den Geldgebern zu bedanken; die Mittel stammen aus dem freiwilligen Ausgleichfonds für Bodenversiegelung und Schadstoffeinleitung, in das viele namhafte Firmen, die nicht genannt werden wollen, eingezahlt haben. Ein Modellprojekt, um das uns schon jetzt viele andere Bundesländer beneiden!
Das, liebe Maulwürfinnen und Maulwürfe, zeigt doch den Stellenwert des Vorhabens, für das ich die Ehre habe, hier bei der Eröffnung von LAUBENLAND zu sprechen.
Ich möchte Ihnen Lust und Appetit machen, sich hier anzusiedeln! Ein Land mit Maulwürfen kann sich gücklich schätzen, denn es ist ein glückliches Land.
Diejenigen unter Ihnen, die keine Maulwürfe sind, werden Ihnen gewisz bestätigen: wir heiszen Sie, Talpea Europaea herzlich willkommen, denn unsere Böden sind locker und wir sind es ebenso. Unser ästhetisches Empfinden ist nicht das unserer Eltern, das müssen Sie uns glauben, wir sind ganz anders, irgendwie besser, wir haben keine Wolkenstores oder Rolläden vor den Fenstern, hören keine Volksmusik und hier wehen mehr buddhistische Gebetsfahnen als Deutschland-Flaggen. Wir vergiften Sie auch nicht, jedenfalls nicht vorsätzlich, denn das ist verboten. Der Artenschutz gilt. Und Regenwürmer haben wir hier wirklich genug, die haben glücklicherweise eine gröszere Fertilitätsrate als Menschen und Mullen. Sie, liebe Mullen, beiszen den regen Würmern gern den Kopf ab, damit sie am Leben und frisch bleiben. Wir schätzen den NABU und seine Aussage hoch und machen sie uns zu eigen: „Unser Anliegen ist es, die Vorurteile gegenüber Maulwürfen aus dem Weg zu räumen und wir setzen uns für ein gutes Zusammenspiel von Gärtnern und Maulwürfen ein.“ Ich möchte ergänzen: für ein gutes Zusammenspiel von Gärtnerinnen und Gärtnern und Maulwürfinnen und Maulwürfen (Und beim Thema Zusammenspiel denke ich an ein Ballspiel, da würden Sie die meisten Punkte machen – eben deshalb). Und nun lade ich Sie, liebe Gärtnerinnen und Gärtner und Liebhaberinnen und Liebhaber von Laubenland, Gartenkunst und Laubenkunst, sich zum Maulwurf zu bekennen und das Grabehand-Lichtbild sichtbar zu tragen! Und wenn wir nicht Ballspielen, wir nehmen einen hellgelben Ball mit einem eingearbeiteten Glöckchen, denn Sie können ja nicht so gut sehen. Aber sehr gut hören! Apropos: sowas machen wir hier nicht, Vergrämung, was ja freundlicher klingt, als es ist, mit lauten Geräuschen, Stöcke in den Boden rammen und dran schlagen oder die Geräte anschaffen, die das automatisch besorgen, wirklich nicht. Ja, es stimmt, wir essen gern mit Knoblauch gewürzte Speisen, aber niemals würden wir Knoblauch-Knollen und gar die Eure empfindlichen Nasen, diese kleinen rosa Steckdosen, mit Knoblauch-Brühe verärgern und vertreiben. Können Sie die Nasen eigentlich ebenso wie die Ohren verschlieszen? Das ist eine wunderbare und nachahmenswerte Einrichtung der Natur. Alles Nachahmenswerte leben Sie aber auch nicht vor: In einen Winterschlaf begeben Sie sich nicht. Andererseits: so ein Laubenland ist doch kein Ort des Chillens und Grillens oder Abhängens, sondern ein Ort des Tätig-in-der-Welt- sein, des Künstlerns und Gärtnerns. Ihre Speisegewohnheiten tolerieren wir unbedingt – auch wenn Sie Carnivoren sind, Sie sich sogar ausschlieszlich carnivor ernähren, obwohl viele uns vegetarisch oder vegan leben. Apropos Lifestyle: da ist doch ganz viel ähnlich bei uns: Sie leben als Single, Ausnahmen nur während der Paarungszeit, die Maulwürfinnen sind allein-erziehend. Und Ihre Wohnung besteht aus Wohnkammer, Lauf- und Jagdgängen. Das heiszt doch, Sie arbeiten zu Hause, das tun wir Freiberufler und mentale Loftbewohner ja auch ganz überwiegend. Wenn wir nicht im Garten sind, aber da können wir ja auch online sein ... doch ich schweife ab.
Liebe Maulwürfinnen und Maulwürfe, Liebe Mullen, Alfred Brehm, einstmals hier in Hamburg Zoodirektor, nannte Sie noch so. Hier lebt noch der alte Name weiter, jedes Kind hier weisz, dasz Sie nicht mit dem Maul werfen, liebe Maulwürfinnen und Maulwürfe, früher wurden Sie mu-werf angesprochen. Mu, später Mull von Haufen. Sie sind begnadete Haufen-WerferInnen. Für uns überaus praktisch, der NABU rät: „Die ausgeworfene lockere Erde kann hervorragend für ein Blumenbeet genutzt werden.“ Erstens: WinWin. Zweitens: Schiere Rasenflächen sind ja nun wirklich gestrig, öde und spieszig. Das war zu Zeiten angesagt, da man die Maulwürfe noch wegen Ihres schönen dunkel-glänzenden, sammtartigen Fells verfolgte. Es ist unglaublich dicht und hat keine Wuchsrichtung und da war es für Pelzbesatz und Umhänge natürlich sehr begehrt. Dabei brauchen Sie ja Ihr Fell zum Verdichten und Glätten der Gänge, in denen Sie Patrouille laufen, immerzu auf Beute lauschend, dann blitzschnell losflitzend zu der Stelle, wo ein Kerbtier akustisch auffällt. Sehr viel fressen müszen Sie, das bedingt wohl Ihre Lebensweise, etwa die Hälfte des Lebendgewichtes jeden Tag. Und Sie bringen ja einzeln nur 65 bis 120 Gramm auf die Waage, also wenn wir Sie wiegen. Leider sind Sie dann meistens tot. Die meisten Menschen und Gärtnerinnen und Gärtner kennen Talpea Europea nur als Leiche, das ist wirklich sehr bedauerlich.
Ihre Feinde sind auch unsere Feinde, also ganz oft: Füchse, Eulen, Katzen. Die besonders, Eulen und Füchse wohnen hier ohnehin längst nicht mehr, wir werden den Katzen ab sofort nichts mehr zu fressen hinstellen (Um sie nicht mehr anzulocken)! Es tut uns auch sehr leid und wir wünschten, wir könnten es ändern: von Ihrem lateinischen Namen TALPEA haben wir das Wort Tölpel abgezogen. Immer wieder wird Brehms Tierleben zitiert, um sich über Mullen zu belustigen, oder, ärger noch, Sie zu Dämonen machen. In dem Artikel über die Kerbtier-fresser/ Insectivora versucht „Thiervater Brehm“ verlorenes Sympathie-Terrain wieder zu gewinnen: „...gegen das einmal eingewurzelte Vorurteil der Menschen läszt sich leider allzuschwer ankämpfen, und traurigerweise ist der Satz nur allzu tief begründet, daß der Mensch oft gerade das, was ihm den meisten Nutzen bringt, durchaus nicht anerkennen will. Man verfolgt die kleinen Wühler ihrer unschönen Gestalt, ihrer Lebensweise wegen, wo man sie antrifft, und vergißt dabei gänzlich, was sie leisten, was sie sind. Anders freilich wird derjenige handeln, der sich mit ihrem Leben näher beschäftigt. Er findet so vieles, was ihn anzieht und fesselt, daß er sehr bald die unschöne Körpergestalt vergißt und ihnen allen nun seine gröszte Teilnahme und Unterstützung zukommen läszt.“ Dr. Brehm, wir haben verstanden! Aus dem ausführlichen Artikel Maulwurf, Talpa Europea, der Maulwurf oder Mull, Zweiter Band, Leipzig 1883 - Seiten 256 bis 264 - wird gemeinhin und gemeinerweise meist nur eine Passage zitiert.
Soll ich Ihnen sagen, weshalb? Weil wir zu neuem Gefühlsreichtum gekommen sind und Menschen Tiernamen und Tieren Menschennamen geben, weil wir in gebrauchten Möbeln wohnend, dem Neuen argwöhnisch begegnen. Erben wollen wir und ziehen lieber das wollene Wams der Naturkunde als den weiszen Kittel der Naturwissenschaft an. „Schon aus dem bis jetzt Mitgetheilten ist hervorgegangen, daß der Maulwurf im Verhältnis zu seiner Größe ein wahrhaft furchtbares Raubthier ist. Dem entsprechen auch seine geistigen Eigenschaften. Er ist wild, außerordentlich wüthend, blutdürstig, grausam und rachsüchtig, und lebt eigentlich mit keinem einzigen Geschöpfe im Frieden, außer mit seinem Weibchen, mit diesem aber auch bloß während der Paarungszeit, und so lange die Jungen klein sind. (Herr Brehm, das mag bei Ihnen damals in Ihrer bürgerlich-patriarchalen Kleinfamilie so gewesen sein, auf die Talpea trifft das jedoch nicht zu!) Während des übrigen Jahres duldet er kein anderes lebendes Wesen in seiner Nähe, am allerwenigsten einen Mitbewohner in seinem Baue, ganz gleichgültig, welcher Art dieser sein möge. (...) Fast alle Landleute, welche ihre Betrachtungen über das Thier angestellt haben, sind darin einig, daß der Maulwurf drei Stunden ‚wie ein Pferd’ arbeite und dann drei Stunden schlafe, hierauf wieder dieselbe Zeit zur Jagd verwende und die nächstfolgenden drei Stunden wieder dem Schlafe widme u.s.f.“
Liebe Maulwürfinnen und Maulwürfe, da hat „Vater Brehm“ doch die Naturkunde so recht auf die Füsze gestellt, auf Menschenfüsze, indem er die Gröszen-Verhältnisse befragt. Im Verhältnis zu seiner Grösze ist der Mensch ein wahrhaft furchtbares Raubthier. Insgesamt und global gesehen, wären wir gern kleiner, einzeln und individuell gern gröszer. „... die gröszte Teilnahme und Unterstützung“ legt uns Brehm nahe. Bewunderung hegten wir schon vorher, vom Vorbild Maulwurf wird gleich noch zu reden sein. Die Proportionen Ihres walzenförmigen Körpers sind eigen und ideal: die winzigen Augen, Brehm: „Die Augen haben etwa die Grösze eines Mohnkorns.“ Das ist das erste PVGT – Proportions-Verschiebungsgesetz nach Talpea. Ihre Hände sind dagegen riesig, wer denkt nicht an Baseball-Handschuhe, Zweibeiner brauchen Prothesen; wenn die, also wir, die maulwurfsrichtigen Körper-Proportionen hätten, wir blickten mit tellergroszen Augen aus einem Ballonkopf, winzige Hände mit gröszeren Daumen und kleine Gehstummel wären unsere Extremitäten. Irgendwann würde das gewisz als schön und gelungen durchgehen, da ja gilt: Form follows function. Kommen wir zum zweiten Proportions-Verschiebungs-Gesetz nach Talpea. Vom Körper des Einzelnen zum Körper der Stadt. Maulwürfinnen und Maulwürfe messen 12 bis 16 Zentimeter, Ihr Tunnelsystem miszt jeweils 200 Meter. Jeder von Ihnen hat sein bzw. ihr eigenes Tunnelsystem. Ausgewachsene Menschen messen meist zwischen 150 bis 200 Zentimetern, zwei aktuelle Hamburger Tunnel-Projekte messen 3,4 bzw. 3,7 Kilometer (ein Kilometer entspricht 100.000 Zentimeter). Kurzer Break: jetzt rechnen Sie mal aus: wieviel müssten Menschen graben, um an die Leistung von Maulwürfen heranzukommen? Und jede Rechnung ist ja darüberhinaus wertlos, denn die Menschen lassen ja graben – hier für die A 7, den sogenannten Deckel. Im XFEL-Tunnel des DESY, des Deutsche Elektronen Synchrotons geschehen Dinge, die vielleicht jeder tausendste Maulwurf oder Mensch begreift: es werden dort unter der Erdoberfläche Elementarteilchen beschleunigt, die Röntgenblitze hoher Intensität und kurzer Dauer erzeugen. Kurze Dauer meint: 10 bis 100 Femtosekunden. Das sind 14 Nullen vor einer eins, dann kommt das Komma, dann steht davor wieder eine Null. Begreifbarer und zugleich zukunftszugewandter ist das A-7-Tunnelprojekt, wobei statt von Tunnel von Deckel gesprochen wird (http://www.hamburg.de/fernstrassen/ausbau-a7-deckel).
Ein groszer Wurf, das musz anerkannt werden. Die KritikerInnen von „Apfelbaum braucht Wurzelraum“ sind relativ still geworden. Um die Kosten für die Verbreiterung und Überdeckelung der Autobahn zu begleichen, werden einige Kleingärten weichen und mit neuen Parzellen auf dem Deckel tauschen. Ein Umzugsmanagement begleitet die Verlagerung. Ich habe mich bereits mit den Kollegen ins Benehmen gesetzt, damit auch hier die Maulwurf-Interessen gewahrt werden. Die Rahmenbedingungen sind überaus günstig: 90 cm Erde bieten genug Raum für Sie, liebe Maulwürfinnen und Maulwürfe. Es wird sich um frische und Altlasten-freie Erden handeln – wo haben wir das sonst in Hamburg? Und noch etwas Positives: Gröszere Bauten werden hier nicht draufgesetzt. Nur Lauben und Bäumlein und Strauch und rege Würmer, garantiert. Und dasz uns da keine Klagen kommen über Lärm, der Lärmschutz ist vom Feinsten und die Vibrationen durch den Schwerlastverkehr ist höchstwahrscheinlich geeignet, die Lockerheit des Bodens zu erhöhen Ich komme zum Schlusz. Bald schon hoffen wir Sie, liebe InsektenfresserInnen und Insektenfresser hier zu begrüszen. Ich gebrauche hier mal den Ordnungsnamen Insektenfresser, die menschen-gemachten Familienverhältnisse sind doch recht komplex. Zum Zeichen unserer Freundschaft werden wir – nach den Leibern – auch an unseren Lauben noch kleine Lichtbilder Ihrer Pfote anbringen. Ein Willkommensgrusz! Brehms Eintrag über Maulwürfe, Talpea und Mullen endet mit dem Satz:„Ich finde es sehr erklärlich, daß ein Thier, welches in seinem Leben so wenig bekannt ist, dem gewöhnlichen Menschen als wunderbar oder selbst heilig erscheinen muß: denn eben da, wo das Verständnis aufhört, fängt das Wunder an.“ Halb verborgen auf dem Pfoten-Photo ist Ihr sechster Finger, Brehm schreibt noch nichts darüber, wir nennen es Polydaktylie, Mehrfingrigkeit also, ein sechster, starrer Finger an den Grabe-Händen, wie wunderbar. Nun also an die Arbeit, an die Hügel und in die Gänge, liebe Gärtnerinnen und Gärtner, Künstlerinnen und Künstler, Maulwürfinnen und Maulwürfe. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit!
+ Foto: Jens-R. Hasche
,»Anmerkungen über Schreber – erste Parzelle« Einzig diese Gärten existieren nicht einzeln, sie blühen als Reihen, als Nummern, zusammengefaszt in Vereinen. Klein- oder Schrebergärten. Eine Versammlung von Parzellen, die eine voll Koniferen, eine mit Rasen und Grill, eine mit Nippes, dort hinten tatsächlich Stangenbohnen, Hochbeete und Himbeersträucher. Der Staat in Gestalt der Stadt gewährt und entzieht, in Hamburg blüht Laubenland seit gut hundert Jahren, auf dasz geackert, geerntet und ernährt werde. Und erzogen. Menschengärten. Kindergärten. Der Arzt Sieveking nannte sie 1907 „Familiengärten“.
„... nicht ‚Arbeiter-Gärten’ oder ‚Schreber-Gärten’. Denn nicht den Arbeitern allein sind sie zugedacht, sondern gerade auch den durch ihren Beruf der körperlichen Arbeit mehr als wünschenswert entzogenen Bureau- und Kontorangestellten unserer Handelsstadt. Und dann liegt in dem Namen ‚Familiengärten‘ schon ein ganz besonderes Programm. ... wir wollen hier keine Krankenkolonien einrichten, vielmehr sollen als Gesunde da vor allem Eltern und Kinder vereint spielen, arbeiten, sich bewegen. So wird es eine Pflegestätte der Familie werden, wo die vielseitigen (...) Ablenkungen der Großstadt ausgeschaltet sind. Der Mann fühlt sich wieder fester mit den Seinen vereint und werde vom Wirtshaus ferngehalten, die Frau lerne Sparsamkeit und richtige Verwendung der Naturprodukte im selbstversorgten Haushalt, die junge Welt finde in gesunder Bewegung Erfrischung für Körper und Geist, sie alle ziehe die Freude am selbst Erschaffenen, am eigenen Besitz, am Walten der Natur (...) empor aus des Alltagslebens Einförmigkeit zu höheren Gedanken, zu edlerem Streben“ ¹.
Von oben geguckt ist der kleine Garten also Chefsache, Vater-Mutter-Familienbildungsort, die Parzelle ist Pflanzstätte idealischer Früchte, Transzendieren durch Vertikutieren, man lache nicht. Die Schreberin und der Schreber verteidigen ihre Schollen nicht nur mit Klauen und Spaten gegen die expansionslüsterne Stadt, sie pflegen in ihren Herzen auch ein Erziehungs- oder Sendebewusztsein.
,»Zweite Parzelle« Garten war immer Metapherngrund, die Kinder müssen Wurzeln, Blüten oder Kraut sein, im Kindegarten-Wort sprieszt Sehnsucht nach Sonne und Glück und Sehnsucht nach Zucht. „Was nützt einer Pflanze die belebende Kraft der Sonne, der fruchtbarste Regen, die gedeihlichste Pflege, wenn sie verdorrte oder verfaulte Wurzeln hat, und diese nicht zunächst entfernt, und, dafern möglich, in lebenskräftige umgebildet werden?“ ².
Wurzel, Baum und Keim bilden die Gesamtheit menschlichen Lebens ab: „Der Körper ist die Wurzel der irdisch-menschlichen Existenz und des geistigen Lebensbaumes, die immer weitere Entwickelung des letzteren das wahre Ziel des menschlichen Lebens. Roh und unentwickelt tritt das Kind aus der Hand der Natur in die Welt ein, aber reich begabt mit Keimen allseitiger Entwickelung (...) Diese Keime sind sowohl auf körperlicher wie geistiger Seite theils edle, welche aufwärts zur Vervollkommnung, theils unedle, lebensfeindliche, welche abwärts zur Fehlerhaftigkeit und Vernichtung führen.“ ³.
Die Arbeit von Gärtner und Erzieher strebt zur Vollkommenheit und verlangt Entscheidungsfreude im Groszen und häufige Korrektionsarbeiten an Stämmen und Stängeln wie auch an biegsamen kindlichen Körpern. Daniel Gottlob Moritz Schreber (1808 – 1861, Leipzig) stellt in nämlichem Werk über die Erziehung an Leib und Seele seine von der linken Pädagogik der 1970er Jahre aufgespieszten Geradehalter vor. Eiserne Schienchen für O- und X-Beine, Riemchen, die den schlafenden Kinderkörper auf dem Rücken attachieren, Geradehalter für den Oberkörper. Keine Schläge, kein Einsperren. Gymnastik. Lebensreform.
Der Kinderarzt Schreber hat nie einen Schrebergarten gesehen. Nach ihm und nach dessen Tod benannte der Leipziger Pädagoge Ernst Innocenz Hauschild (1808 – 1866) Spiel- und Lehrgärten für Kinder „Schrebergärten“. Mit Zaun. Ohne Laube. Ohne Kunst.
,»Dritte Parzelle« In der dritten Parzelle, sie liegt oberhalb des groszen Flusses, sind die Wurzeln zu Nervenbahnen geworden, die Bewohner sind nur „flüchtig hingemachte Menschen“. Durch die Nerven kommuniziert jeder Mensch mit Gott. Das Grundstück ist das Reich von Daniel Paul Schreber, Sohn des Vorgenannten. Die Parzellen-Grenzen verrückte Schreber erstmals, als er eines Morgens von der Vorstellung erfüllt war, „daß es doch eigentlich recht schön sein müsse, ein Weib zu sein, das dem Beischlaf unterliege.“ ⁴. Bald darauf tritt er sein neues Amt als Oberlandesgerichtsrat in Dresden an, wo ihn eine „ungemein große Arbeitslast“ erwartet. Seine Nerven sind dem nicht gewachsen. Schreber weisz, dasz es auszer der gewöhnlichen menschlichen Sprache noch eine Art Nervensprache gibt, „deren sich der gesunde Mensch in der Regel nicht bewuszt wird.“ ⁵. Zu den schönsten Blüten in Schrebers Garten gehören die Wörter wie Denkzwang, Gedankenfälschungen, Seelenwollust, Wollustnerven, Gottesnerven, weltordnungsmäßig.
Daniel Paul Schreber ist ein Hiob und ein Prophet. Als einer der wenigen Nervenkranken zeichnet er seine Krankheit akribisch auf. Sigmund Freud nahm die „Denkwürdigkeiten“ und legte sie auf die Couch. Erwartungsgemäsz ödipalisierte er den Kranken, setzte Gott mit Vater Schreber gleich und ordnete die beschriebene imaginierte Geschlechtsumwandlung dem Wunsch unter, mit dem Schreber-Vater zu verkehren.
Zeit, in den Garten zu gehen. Es ist ein Garten mit Wortblumen und fehlenden Zäunen – und es schwindelt der Leserin, dasz es der Garten der nachmaligen Euthanasieanstalt Sonnenstein in Pirna an der Elbe ist, in dem Schreber sitzt, Gewöhnliches ungewöhnlich beschreibend.
„Ich ging am Vormittag in den Garten, wo ich jetzt in der Regel nur eine halbe bis dreiviertel Stunde verweile, da der Aufenthalt im Garten - auszer soweit ich Gelegenheit zu lauter Unterhaltung habe, woran es bei der fast nur aus Verrückten bestehenden Umgebung nahezu gänzlich mangelt - sich meist zu einem beinahe unausgesetzten Brüllen gestaltet. Die vorhergehende Nacht war sehr mangelhaft gewesen, sodaß ich stark ermüdet war. Ich setzte mich demzufolge auf eine Bank, wo ich - wie jetzt in beschäftigungslosen Zeiten in der Regel - zur Betäubung der eingehenden Stimmen anhaltend (in der Nervensprache) 1, 2, 3, 4, zählte. Die Augen wurden mir durch Wunder geschlossen, und es trat darauf nach kurzer Zeit Schlafanwandlung ein. Nunmehr erschien - und dieser Vorgang wiederholte sich in der kurzen, etwa halbstündigen Dauer des Gartenaufenthaltes nach inzwischen erfolgtem Aufstehen auf verschiedenen Bänken dreimal hintereinander ... Ich glaube behaupten zu dürfen, dasz es die einzigen Wespen waren, die an dem betreffenden Tage überhaupt erschienen ... Die Wespen waren diesmal, wie ich aus für mich unzweifelhaften Gründen, die hier darzulegen zu weit führen würden, anzunehmen habe, ein Wunder des oberen Gottes (Ormuzd); noch im vorigen Jahre wurden dieselben von dem niederen Gotte (Ariman) gewundert; die Wunder des oberen Gottes hatten damals einen noch erheblich feindseligeren Charakter (Aufhetzung von Verrückten u.s.w.).“ ⁶.
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